Einführungsrede Julienne Franke, Leiterin Städtische Galerie Lehrte

Andrea Imwiehe

Randbereiche

Andrea Imwiehe, die wie Sie bereits gehört haben, aus Peine stammt, hat sich mit der Umgebung in der sie aufgewachsen ist, auseinandergesetzt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Aber einzelne Gebäude lassen sich in ihren Werken ebenso erkennen wie Landschaftsbezüge.
Die Darstellung der beiden Themen fällt dabei recht konträr aus, die lineare Zeichnung skelettiert die Architektur auf ihre konstruktive Klarheit, während die malerische Behandlung der Naturelemente Räumlichkeit entstehen lässt und idyllische Akzente setzt. Doch wird auch die Landschaft nicht fotorealistisch behandelt, sondern die Wiedergabe von Strukturen spielt die entscheidende Rolle.

Thematisch setzt sich Andrea Imwiehe auf mehreren Ebenen mit realen und erinnerten Gegebenheiten auseinandersetzen. Dabei greift die 1970 in Peine geborene Künstlerin auf Orte ihrer Kindheit zurück, aber auch auf Stadt- und Landschaftsansichten, die sie bei Reisen oder im Alltag entdeckt. Doch steht dabei nicht das Zentrum einer Stadt oder die touristischen Höhepunkte einer Landschaft im Mittelpunkt, sondern die Peripherie von Ansiedlungen, wo Industrieanlagen und randständige Bebauung auf die Landschaft treffen, Leerstände und Brachen bereits wieder von der Natur vereinnahmt werden – eben die Randbereiche. Dies macht es schwieriger, die Orte einzuordnen oder wiederzuerkennen. Aber gerade an den Rändern sind die Begegnungen oft voller Spannungen oder Überraschungen, da die Widersprüche nicht geglättet oder planerisch harmonisiert werden.

Die Künstlerin, die zu einzelnen Themen ganze Serien erarbeitet, hat eine der Serien Randbereiche genannt.  Dazu sehen sie die Werke mit der einzelnen Gans, die sich mit drohendem Fauchen, neugieren Schauen und entspannter Federpflege ganz typisch verhält. Ihre realistische Darstellung kontrastiert mit der schemenhaften Frau, die wie projiziert auf der Häuserwand erscheint. Es ist als würden verschiedenen Zeitebenen aufeinandertreffen, eine Erinnerung, die bereits verblasst und ein aktuelles Geschehen.

Gerade Kindheitserinnerungen halten einer Überprüfung mit der Realität oft nicht Stand, ein Haus, das in der Kindheit groß erschien, wirkt beim erneuten Besuch im Erwachsenenalter viel kleiner. Proportionen verändern sich, aber auch die Umgebung selbst hat sich gewandelt. Auf diese kindliche Ebene verweist die Serie Childlike Magic. Ein Kind, das einen Schatten wirft, obwohl es nur als Silhouette dargestellt ist, wird von Sternen und Seifenblasen umgeben, während im Vordergrund schlanke Baumstämme und kleine blaulila Blumen wachsen. Eine Szene, die etwas Märchenhaftes vermittelt, aber zwischen Realität und Phantasie changiert. Als wäre im Hintergrund eine Projektion zu sehen oder die Vorlage eines Malbuches für Kinder, dass seiner Vollendung noch harrt.

Die im Vordergrund platzierten Baumstämme, oft handelt sich um Birken, erzeugen Räumlichkeit und schieben sich vor die im Hintergrund erkennbaren Gebäude. Die unterschiedliche Darstellungsweise fällt auf, die typisch ist bei den Werken von Andrea Imwiehe. Sie hat eine ganz individuelle Technik entwickelt, die grafische Formen mit einem malerischen Farbauftrag verbindet.

Die Werke sind ausnahmslos auf Holz gemalt, das ermöglicht diese absolut glatt wirkenden Flächen, die nicht durch die Struktur der Leinwand beeinträchtigt werden. Dann trägt die Künstlerin dicke Schichten von Acrylfarbe auf, die in den Randbereichen wie eine Rahmung erkennbar bleiben. Die Farbtöne sind selbst angemischt, das erklärt die nuanciert wirkende Farbgebung der Bilder, die trotz weniger Farbtöne eine große Intensität besitzen. Die großen Farbflächen werden mit dem Spachtel aufgetragen wie auch die Baumstämme, während das getupft wirkende Laub oder Gras mit dem Pinsel gemalt ist.
Zwischen den pastosen Strukturen und den glatten Flächen besteht schon ein gewissen Kontrast, dieser wird noch verstärkt durch die lineare Zeichnung, die nicht auf dem Bild mit einem Stift aufgetragen wurde. Wenn man genau hinschaut, sieht man eine vertiefte Linie, die mit einem Linolschnittmesser in die Acrylfarbe geschnitten wurde, so dass die unteren Farbschichten als dunkle Linie hervortreten. Die Linien laufen zu den Enden schmal aus, wenn das Messer an- bzw. abgesetzt wird, und verbreitern sich im mittleren Bereich.

Diese Kombination aus Druckgrafik und Malerei ist ungewöhnlich und erzeugt eine ganz eigene Bildwirkung, die an zarte Reliefs erinnert oder Sgraffitozeichnungen, die seit dem 16. Jahrhundert besonders in Italien, Böhmen und in den Alpen auf Hauswänden Verbreitung fanden. Dabei wurden mehrere verschiedenfarbige Putzschichten übereinander aufgetragen und dann zum Teil wieder entfernt um großflächige Wandgemälde zu erzeugen.

Andrea Imwiehe experimentiert immer wieder mit den Formaten wie man in der Ausstellung sehen kann etwa bei den beiden schmalen Hochformaten, die aus der Serie Constructing Childhood stammen. Die Kindheit spiegelt sich in Märchen, aber auch in der modernen Erfindung des Vergnügungsparks. Die Architektur, die in den Werken zu sehen ist, erinnert an mittelalterliche Fachwerkhäuser, stammt aber von Kulissenbauten des sog. Englischen Dorfes im Spreepark in Berlin, dem einzigen Freizeitpark der DDR, der 1969 eröffnet und 2002 geschlossen wurde.

Der konkrete Bezug zu einem realen Ort wird in den Arbeiten von Andrea Imwiehe nicht unbedingt sichtbar, aber die Motive wirken mitunter rätselhaft und vieldeutig, so dass man an eigene Erinnerungen anknüpfen kann. Verbindend ist jedoch der Eindruck, dass die Natur sich langsam eine nicht mehr genutzte Fläche zurückerobert. Dafür wären die Birken typisch, die als sog. Pionierbäume Brachflächen als erste wieder besiedeln, da sie auch mit kargen Standorten zurechtkommen.

Einen weiteren Bezug zu Berlin, wo die Künstlerin inzwischen lebt, gibt es bei den beiden großformatigen Werken aus der Serie Childlike Magic. Auch hier sind die schlanken Baumstämme zu sehen, zwischen denen eine Art Bretterbude steht, die wie ein überdachter Tresen erscheint. Doch es handelt sich nicht um eine idyllisch gelegene Strandbar, sondern eine improvisierte Partylocation auf dem Teufelsberg in Berlin. Hier sind Schichten der Vergangenheit in besonderer Form konzentriert, handelt es sich um den größten Trümmerberg Berlins, bei dem bis 1972 26 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt abgeladen wurde, etwa ein Drittel der in Berlin zerbombten Häuser. Welche Lebensgeschichten diese beinhalten, ist unvorstellbar. Hier wurden nicht nur zerstörte Häuser abgeladen, auch Schicksale und Geschichten von Menschen, an die sich keiner mehr erinnert. Seit 2018 steht der Teufelsberg und seine Gebäude unter Denkmalschutz.

Auffällig ist bei den Werken, dass eine neutrale Lichtsituationen vorherrscht. Es gibt keine Schattenwürfe oder beleuchtet Zonen, die man aus impressionistischen Werken von Max Liebermann kennt, der die Sonnenflecken zwischen den Bäumen auf den Wegen tanzen lässt. Die sachliche Stimmung einer konstruktiven Zeichnung entsteht, gleichzeitig wirken die Szenen wie eingefroren in einer gewissen Reglosigkeit und Stille, als seien sie aus dem Alltag enthoben. Die Nutzung bleibt vage, kein Müll oder andere Spuren von Aktivitäten sind zu sehen.
Dies wird unterstützt dadurch, dass bis auf wenige schemenhaft dargestellte Menschen, die Werke menschenleer sind. Dies erhöht den Eindruck einer verlassenen Örtlichkeit aus vergangener Zeit, ohne dass dies mit Hilfe von Ruinen ausgedrückt wird. Im Gegenteil, auch wenn das Baumaterial nicht explizit dargestellt wird, erscheinen die Gebäude intakt und stabil. Dies gilt für den Unterstand ebenso wie für den kleinen Tempel aus der Serie Silent retreat, der auf einem hohen Felsen thront.

Ganz unterschiedliche Architektur wird in den Werken von Andrea Imwiehe thematisiert, manches wirkt wie eine Villa oder Schloß, anderes ist klar als Industrieanlage zu erkennen.
Manchmal treffen auch Gebäude aus verschiedenen Zeiten aufeinander, etwa bei der Darstellung der Metzingschen Mühle bei Stederdorf, die neben dem Bild mit dem Tempel zu sehen ist. An eine alte Windmühle aus dem 19. Jh., die sich bereits im Verfall befindet, sind neuere Gebäude einer Mühle angebaut, die noch intakt wirken. Daneben steht in unmittelbarer Nähe ein Sendemast neueren Datums. Der Himmel und die Gebäude sind mit der gleichen Farbe unterlegt, so als wären die Strukturen in die Luft gezeichnet. Hier spielt das Lineament sowohl bei den Gebäuden als auch dem Funkmast eine bedeutende Rolle, ragen sie doch weit empor, während die Bäume und Büsche sich im Verhältnis dazu noch klein ausnehmen.

Fast wirkt es so, als würden manche Gebäude auf den Bildern von Andrea Imwiehe in eine Art Dornröschenschlaf verfallen, nicht unbedingt Schlösser oder herrschaftliche Gebäude, sondern ebenso Industrieanlagen und Nutzgebäude, die brach liegen. Dies gilt für den stillgelegten Flugplatz in Eddesse bei Peine, der 1958 von Günter Grassmann, Inhaber einer Werkzeugfabrik als Privatbetrieb eröffnet wurde und seit 2010 geschlossen ist. In verschiedenen Werken sind die Hangars, ein Tank-Service oder der Tower zu erkennen, die sich als schmales Band nebeneinander reihen. Noch scheinen die Gebäude intakt, während die Zuwegungen bereits durch Pflanzen überwachsen werden. Reizvoll sind die unterschiedlichen Formen der Gebäude, die halbrunden Hangars im Kontrast zum Tower, die farblich zusätzlich strukturiert werden, so dass sie Volumen erhalten und nicht alleine als Linienzeichnung zu sehen sind.
Ohne dauerhafte Nutzung verschwinden solche peripher gelegenen Orte nicht nur in der Natur, sondern auch langsam aus dem Gedächtnis, während sich die Zeit in ihnen ein Stück weit konserviert, weil keine Veränderungen mehr vorgenommen werden.  Anders ist es bei zentral gelegenen Gebäuden wie dem Flughafen Tempelhof, der auch nachdem er seine Funktion verloren hat, sichtbar bleibt und in eine andere Nutzung übergeht.

Abschließend möchte ich ihre Aufmerksamkeit noch auf die Campingwagen aus der Serie Fading into green und Plant Memory Lane richten. Denn das Triptychon ist ein Werk von diesem Jahr, das auf den Campingplatz in Hämelerwald am Waldsee Bezug nimmt. Die Campingwagen sind eng aneinandergerückt und im Wald regelrecht eingebettet. Es scheint etwas zweifelhaft, ob sie noch genutzt werden oder dort vergessen wurden. Die daneben gezeigten kleineren Formate beschränken sich jeweils auf ein Wohnmobil, wobei unterschiedliche Modelle und Landschaftsumgebungen sichtbar werden.

Hier wird deutlich, dass sich Andrea Imwiehe bei der Gestaltung der Landschaft von der Realität löst und die Einbettung in die Natur nach eigenen Vorstellungen vornimmt. Dabei wird die Natur zunehmend dominanter gegenüber den früheren Arbeiten, wo sie sich auf wenige schlanke Baumstämme reduzierte. Das Einwachsen scheint fortzuschreiten, die Vielfalt verschiedener Pflanzen wie Nadelbäume, Büsche und Gräser nimmt zu.

Eine ambivalente Atmosphäre von Ruhe und Erwartung, von vergangener Betriebsamkeit und dornröschenhaftem Schlaf stellt sich ein. Der Ausgang der Geschichte bleibt anders als im Märchen jedoch offen und bietet die Möglichkeit, die Geschichten selbst weiterzudenken und mit eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen zu verbinden, die von ganz anderen Orten stammen können.

                        Julienne Franke, Städtische Galerie Lehrte, 2025

Dr. Anette Naumann zur Ausstellung Randbereiche, Galerie 149

Andrea Imwiehe ist eine Archäologin der Erinnerung. Das, womit sie umgeht - die Farben, die sie wählt, die Linien, die sie setzt und die Motive, die sie wählt – umkreisen dieses vage Feld, in dem Verlorenes und Vergangenes aufbewahrt wird – und wiedererschaffen! Denn das Gedächtnis ist keine Schublade, in der das einmal dort Abgelegte unangetastet wieder hervorgezogen werden könnte, sondern jede Erinnerungsleistung ist eine im jeweiligen Moment neugeschaffene Rekonstruktion. Diese Gemälde haben auch mit einer Rekonstruktionsabsicht zu tun: Sie deuten auf eine verlorene Welt und vereinzelte, in ihrer Bedeutung fragwürdig gewordene Dinge, die jedoch auf eine so besondere Weise behandelt sind, dass sie nicht nur die Künstlerin, sondern auch die Betrachtenden dazu einladen, ihren verschwundenen Kontext neu wiedererstehen zu lassen.

Man könnte im ersten Moment denken, die Malerin würde einfache Dinge abbilden, ziemlich realistisch und diesseitig-konkret: Koffer, Kleider, Möbelstücke. Doch in deren einsamer Verortung in leeren Räumen wird spürbar, dass sie ihrer ursprünglichen Bedeutung verlustig gegangen sind und ihr Schicksal ungewiss ist. Andrea Imwiehe malt Gegenstände, die aus einer vergangenen Welt hereinragen in unsere Gegenwart und die unsere Erinnerung entzünden können: die an den alten Mantel eines Großvaters zum Beispiel, die Kaffeekanne der Großmutter oder das gehäkelte Plüschkissen einer hundertjährigen Verwandten. Manche Kleidungsstücke sind zum Teil gar nicht mehr gebräuchlich, wie dieser weiße Kinderkragen zum Einknöpfen, oder Stofftaschentücher, die im Tempo-Zeitalter kaum noch jemand benutzt. Einen solchen Klammerbeutel von damals auf einem Bild zu sehen, kann einen in der Erinnerung sofort zu einer bestimmten Situation vor einer Wäscheleine im Hof einer Tante führen und weitere Eindrücke wie die Kälte der Luft oder den Geruch frischer Kleider hervorholen.

Die Malerin geht von eigenen konkreten Erinnerungen aus und Gegenständen, die eine persönliche Bedeutung für sie haben, ohne jedoch eine persönliche Mythologie daraus zu machen, in die sich die Betrachtenden eindenken müssten. Vielmehr wendet sie die Objekte durch die Herauslösung und die sorgfältige, detailreiche Einzelpräsentation so ins Überpersönlich-Allgemeine, dass eigene Erfahrungen und Bilder in uns wachgerufen werden. Denn ihr Lebenszusammenhang ist nicht ausgestaltet – wo sich diese frei flottierenden, collagenhaft in die Bildfläche gesetzten Motivfelder eigentlich befinden, ist ganz unbestimmt.

Sie schweben auf einer homogenen farbigen Fläche, die aus drei bis vier übereinandergelegten Farbschichten besteht, von deren unteren jeweils schmale Streifen zu sehen bleiben, die das Bild wie einen eigenen Rahmen umgeben. Auch hier haben wir eine Analogie zu der Erinnerung, in der sich Tag um Tag neue Schichten bilden. Man kann die Vergangenheit nie als Ganzes wieder zu sehen bekommen, sondern nur in Teilen hervorholen. So kratzt die Künstlerin in die oberste Schicht mit einem Linoleumwerkzeug schmale Furchen heraus, in denen die unterste dunkle Farbschicht als Zeichnungsfarbe hervortritt. Diese Linien sind ausgewählt und sehr reduziert, gerade soviel, wie das Bild als Ganzes benötigt und verträgt. Sie dienen den Gegenständen als Stütze oder Aufhänger – Kleidungsstücke hängen z. B. über einem angedeuteten Stuhl oder von einem Fenstergriff herab – oder es werden durch diese Zeichnungen Raumsituationen markiert, in denen sich die Objekte befinden könnten. Das Wissen über das Zustandekommen der Linien bringt die Vorstellung mit sich, dass noch mehr »zu holen« wäre, dass ein vollständiges Bild unter der Oberfläche läge, das bisher nur in Umrissen zur Erscheinung kommt.

Dieser Vorgang beschreibt das Thema ihrer Bilder: das Verlorene, Verschwundene, nicht Gesehene oder nicht Sichtbare anschaulich zu machen. Orte zu evozieren, die verlassen sind, oder die es gar nicht mehr gibt, ebenso wie Zeiten, die unwiederbringlich vorbei sind. Die Kindheit ist auch so ein Ort.

Die Gemälde haben etwas Anrührendes, indem sie die Fragilität des menschlichen Lebens umschreiben. Die Menschen, die diese Kleider getragen und sie so viele, viele Male gewaschen, aufgehängt, gebügelt und zusammengelegt haben, sind im Bild abwesend, aber sie beschäftigen unsere Imagination. Ihr Fehlen lässt an den Tod denken, an das aus den Räumen entwichene Leben. Durch die Hervorhebung der einzelnen Objekte bekommen diese den Charakter einer Hinterlassenschaft, bei der die nachfolgenden Generationen sich bei jedem Ding, das sie in die Hand nehmen, fragen müssen: wegwerfen oder behalten? Die malerische Aussonderung von Lampe, Bluse oder Spielzeugpferd auf der Bildfläche macht diesen Prozess des Auswählens deutlich, und auch die Empfindungen, die mit dem Sortieren von alten Dingen einhergehen. Jedes Ding ist aufgeladen mit konkreten Erinnerungen an ein Leben, in dem es seinen Platz gehabt hat und einen Menschen, dessen Gewohnheiten und persönliche Besonderheiten daran noch anhaften. Dadurch entsteht eine vom Gebrauchswert völlig unabhängige Wichtigkeit, die auf einer immateriellen Ebene liegt. Und das Bemerkenswerte an diesen Bildern ist, dass diese neue Wertschöpfung für jeden spürbar wird. In der Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die die Künstlerin diesen Habseligkeiten malend entgegenbringt, fängt sie etwas Größeres in ihnen ein: die Schönheit eines gelebten Lebens in der Einfachheit der täglichen Wiederholungen. Sie macht anschaulich, was man nicht sehen kann, die Liebe eines Kindes zu seinem Teddybären oder die Geste einer Großmutter, wie sie den Stoff ihres Rockes glattstreicht.

Beim Betrachten tauchen existenzielle Fragen auf: Was hat Bestand? Was brauche ich wirklich von den Dingen, die ich angehäuft habe? Woran hänge ich – was würde ich mitnehmen? Die politische Wirklichkeit, in der so viele Menschen ihre Heimat verlassen und das Allermeiste zurücklassen müssen, schwingt in diesen Bildern ebenfalls mit.

Die knappen, sprechenden Titel, die Andrea Imwiehe für ihre Bildserien findet, bieten in dieser Hinsicht einen weiter gefassten Bezugsrahmen, in welchem sich sich ihre Themen spiegeln: »Mangelware« ist zum Beispiel eine Reihe von Werken genannt, die Kindersachen auf der Leine zeigen. Auch hier wieder ist die Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit menschlichen Lebens fühlbar, wo der Gedanke an die Kriege nahe liegt, die unsere Großeltern- und Elterngenerationen durchleben mussten (und viele Menschen in heutigen Krisengebieten), wo an allem Lebenserhaltenden ein Mangel herrscht.

In den Gemälden ist das Tieferliegende von Bedeutung, das, was nicht unmittelbar zu sehen ist und doch da ist. Dieses eigentümliche Sowohl-als-Auch zeichnet die Malerei von Andrea Imwiehe insgesamt aus: sie ist exakt und leicht unpräzise zugleich, real und vorgestellt, selbstbewusst und bescheiden. Die Klarheit ihrer Formen hat etwas von der pragmatischen Eingängigkeit großmütterlicher Prinzipien. Auf der anderen Seite entsteht in den räumlichen Andeutungen, den leichten Verzerrungen und den verblassten Erinnerungsfarben ein geheimnisvolles Eigenleben, das sich nicht dingfest machen lässt. Was verloren ist, imaginiert sie – nicht in verschwenderischer Erfindung, sondern mit restaurativer Fantasie.

Anhand dieser Bilder können auch wir als Betrachtende einen Teil unserer Vergangenheit zurück-entdecken.

Dr. Anette Naumann, Kunsthistorikerin

Katalogtext zum AOK Kunstpreis von Steffen Blunk



Liebevoll ausgearbeitet bis ins kleinste Detail präsentieren sich die Landschaften und Naturräume in den Bildern Andrea Imwiehes. Fast könnte man meinen, den Wind im Gras wispern zu hören, fast möchte man den Duft der Blumen wahrnehmen. Und doch stört etwas auf diesen Bildern. Industrieanlagen schieben sich von hinten in das Bild, die so gar nicht zu der lieblichen Natur passen wollen – Türme, Rohrleitungssysteme, Kräne, Mauern, manchmal halb verfallen.Diese teils brachialen menschengemachten Bauwerke sind an sich schon Kontrapunkt zur Natur – doch greift Andrea Imwiehe darüber hinaus zu einem stilistischen Mittel, das den Gegensatz auf die Spitze treibt. Statt sie nämlich ebenso detailverliebt zu malen, ritzt die gelernte Bauzeichnerin lediglich deren Umrisse in die oberen Farbschichten bis auf die farbige Grundierung der Bilder. Damit verstärkt sie den Kontrast einer-seits und nimmt ihm doch gleichzeitig die Schärfe. Die Industrieanlagen bekommen etwas Schwebendes, Vorläufiges, fast Geisterhaftes.Das provoziert Interpretationen. Zwei liegen auf der Hand: Des Menschen Werk wird von der Natur zurückerobert, die Natur überwuchert die immer unsichtbarer werdenden Industrieanlagen. Oder im Gegenteil: noch ist die Natur unverletzt und harmonisch, doch im Hintergrund lauert schon der Mensch mit seinen Industrien, um ihr die Flächen streitig zu machen.
„Ich freue mich immer über die verschie-denen Interpretationen meiner Bilder“, so die Künstlerin selbst über ihr Werk. „Aber um das Thema Naturzerstörung oder auch den Sieg der Natur geht es mir gar nicht.“Auslöser für die Bildserien, die seit 2012 entstehen, sei eine Diasammlung gewesen, die sie von ihren Eltern erhalten hat, auf der sie sich selbst als Kind spielend sah. Den Blick fokussiert auf die Natur zu ihren Füßen und im unmittelbaren Umfeld. „Dass im Hintergrund die Anlagen der Ilseder Schlackeverwertung alles überragten, habe ich nicht erinnert. Als Kind sind sie mir gar nicht wirklich aufgefallen. Ich habe aufgrund der Dias zunächst versucht Orte einzufangen, an denen ich mich als Kind aufgehalten habe, und ihnen nachzuspüren, indem ich sie fotografiert und dann in die Bilder eingearbeitet habe.“Also geht es um Erinnerungen? „Nicht direkt um Erinnerungen. Eher um die Frage, was Erinnerungen bei uns auslösen“, sagt Andrea Imwiehe.„Wenn ich zum Beispiel eine Ziegelmauer von einer Fabrik sehe, an deren Fuß Unkraut den Boden aufbricht und an der Mauer hochwächst, dann löst das bei mir ein tiefes Gefühl der Freude aus, wo andere vielleicht denken, dass das total hässlich ist. Und dieses Gefühl der Freude hängt ja genau mit solchen unbewussten Erinnerungen zusammen, die aus der Kindheit da sind. Wir reagieren also auf etwas, das wir sehen, riechen oder hören, mit bestimmten Gefühlen, weil es uns an etwas erinnert. Und den Quellen dieses plötzlichen Gefühls, diesen Auslösern forsche ich mit meiner Malerei nach.“

Die Bilder von Andrea Imwiehe sind Erinnerungsbilder, die speisen sich aus der eigenen Erinnerung gehen aber über diese hinaus. Ihr Anliegen ist es, eine Atmosphäre durch die Malerei zu erschaffen. Sie nimmt damit eigentlich das Wesen, die Struktur einer Erinnerung zum Anlass: Selten sind diese ganz plastisch vor uns, vielmehr erinnern wir uns an eine Stimmung, an ein bestimmtes Licht, an einen Geschmack oder eine Atmosphäre. Erleben wir diese Atmosphäre, dieses Licht oder diesen Geschmack noch einmal, kann dies der Anstoß im Sinne von Platon sein, der unsere Verknüpfungen arbeiten lässt – wir erinnern uns an bereits vorhandenes, das tief in uns verborgen war. Die Vegetation, die Andrea Imwiehe in ihren Bildern nutzt, dient vor allem dazu, diese erinnerte Atmosphäre, die Stimmung von damals wieder einzufangen und präsent zu halten. Auch hier handelt es sich nicht um ein klares Bild, sondern nur um die erinnerte Stimmung, die auch mal stark von der Realität abweichen kann. Unsere Erinnerungen sind formbar, sie verändern sich, ihnen kann etwas weggenommen oder auch etwas hinzugefügt werden. Unser Gehirn ist sogar in der Lage falsche Erinnerung zu schaffen. Es ist keine präzise Dokumentation, sondern unser eigenes Gedächtnis, das hier stetig an der Arbeit ist.

 

Carla Johanna Frese, Kunstwissenschaftlerin