Andrea Imwiehe
Randbereiche
Andrea Imwiehe, die wie Sie bereits gehört haben, aus Peine stammt, hat sich mit der Umgebung in der sie aufgewachsen ist, auseinandergesetzt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Aber einzelne Gebäude lassen sich in ihren Werken ebenso erkennen wie Landschaftsbezüge.
Die Darstellung der beiden Themen fällt dabei recht konträr aus, die lineare Zeichnung skelettiert die Architektur auf ihre konstruktive Klarheit, während die malerische Behandlung der Naturelemente Räumlichkeit entstehen lässt und idyllische Akzente setzt. Doch wird auch die Landschaft nicht fotorealistisch behandelt, sondern die Wiedergabe von Strukturen spielt die entscheidende Rolle.
Thematisch setzt sich Andrea Imwiehe auf mehreren Ebenen mit realen und erinnerten Gegebenheiten auseinandersetzen. Dabei greift die 1970 in Peine geborene Künstlerin auf Orte ihrer Kindheit zurück, aber auch auf Stadt- und Landschaftsansichten, die sie bei Reisen oder im Alltag entdeckt. Doch steht dabei nicht das Zentrum einer Stadt oder die touristischen Höhepunkte einer Landschaft im Mittelpunkt, sondern die Peripherie von Ansiedlungen, wo Industrieanlagen und randständige Bebauung auf die Landschaft treffen, Leerstände und Brachen bereits wieder von der Natur vereinnahmt werden – eben die Randbereiche. Dies macht es schwieriger, die Orte einzuordnen oder wiederzuerkennen. Aber gerade an den Rändern sind die Begegnungen oft voller Spannungen oder Überraschungen, da die Widersprüche nicht geglättet oder planerisch harmonisiert werden.
Die Künstlerin, die zu einzelnen Themen ganze Serien erarbeitet, hat eine der Serien Randbereiche genannt. Dazu sehen sie die Werke mit der einzelnen Gans, die sich mit drohendem Fauchen, neugieren Schauen und entspannter Federpflege ganz typisch verhält. Ihre realistische Darstellung kontrastiert mit der schemenhaften Frau, die wie projiziert auf der Häuserwand erscheint. Es ist als würden verschiedenen Zeitebenen aufeinandertreffen, eine Erinnerung, die bereits verblasst und ein aktuelles Geschehen.
Gerade Kindheitserinnerungen halten einer Überprüfung mit der Realität oft nicht Stand, ein Haus, das in der Kindheit groß erschien, wirkt beim erneuten Besuch im Erwachsenenalter viel kleiner. Proportionen verändern sich, aber auch die Umgebung selbst hat sich gewandelt. Auf diese kindliche Ebene verweist die Serie Childlike Magic. Ein Kind, das einen Schatten wirft, obwohl es nur als Silhouette dargestellt ist, wird von Sternen und Seifenblasen umgeben, während im Vordergrund schlanke Baumstämme und kleine blaulila Blumen wachsen. Eine Szene, die etwas Märchenhaftes vermittelt, aber zwischen Realität und Phantasie changiert. Als wäre im Hintergrund eine Projektion zu sehen oder die Vorlage eines Malbuches für Kinder, dass seiner Vollendung noch harrt.
Die im Vordergrund platzierten Baumstämme, oft handelt sich um Birken, erzeugen Räumlichkeit und schieben sich vor die im Hintergrund erkennbaren Gebäude. Die unterschiedliche Darstellungsweise fällt auf, die typisch ist bei den Werken von Andrea Imwiehe. Sie hat eine ganz individuelle Technik entwickelt, die grafische Formen mit einem malerischen Farbauftrag verbindet.
Die Werke sind ausnahmslos auf Holz gemalt, das ermöglicht diese absolut glatt wirkenden Flächen, die nicht durch die Struktur der Leinwand beeinträchtigt werden. Dann trägt die Künstlerin dicke Schichten von Acrylfarbe auf, die in den Randbereichen wie eine Rahmung erkennbar bleiben. Die Farbtöne sind selbst angemischt, das erklärt die nuanciert wirkende Farbgebung der Bilder, die trotz weniger Farbtöne eine große Intensität besitzen. Die großen Farbflächen werden mit dem Spachtel aufgetragen wie auch die Baumstämme, während das getupft wirkende Laub oder Gras mit dem Pinsel gemalt ist.
Zwischen den pastosen Strukturen und den glatten Flächen besteht schon ein gewissen Kontrast, dieser wird noch verstärkt durch die lineare Zeichnung, die nicht auf dem Bild mit einem Stift aufgetragen wurde. Wenn man genau hinschaut, sieht man eine vertiefte Linie, die mit einem Linolschnittmesser in die Acrylfarbe geschnitten wurde, so dass die unteren Farbschichten als dunkle Linie hervortreten. Die Linien laufen zu den Enden schmal aus, wenn das Messer an- bzw. abgesetzt wird, und verbreitern sich im mittleren Bereich.
Diese Kombination aus Druckgrafik und Malerei ist ungewöhnlich und erzeugt eine ganz eigene Bildwirkung, die an zarte Reliefs erinnert oder Sgraffitozeichnungen, die seit dem 16. Jahrhundert besonders in Italien, Böhmen und in den Alpen auf Hauswänden Verbreitung fanden. Dabei wurden mehrere verschiedenfarbige Putzschichten übereinander aufgetragen und dann zum Teil wieder entfernt um großflächige Wandgemälde zu erzeugen.
Andrea Imwiehe experimentiert immer wieder mit den Formaten wie man in der Ausstellung sehen kann etwa bei den beiden schmalen Hochformaten, die aus der Serie Constructing Childhood stammen. Die Kindheit spiegelt sich in Märchen, aber auch in der modernen Erfindung des Vergnügungsparks. Die Architektur, die in den Werken zu sehen ist, erinnert an mittelalterliche Fachwerkhäuser, stammt aber von Kulissenbauten des sog. Englischen Dorfes im Spreepark in Berlin, dem einzigen Freizeitpark der DDR, der 1969 eröffnet und 2002 geschlossen wurde.
Der konkrete Bezug zu einem realen Ort wird in den Arbeiten von Andrea Imwiehe nicht unbedingt sichtbar, aber die Motive wirken mitunter rätselhaft und vieldeutig, so dass man an eigene Erinnerungen anknüpfen kann. Verbindend ist jedoch der Eindruck, dass die Natur sich langsam eine nicht mehr genutzte Fläche zurückerobert. Dafür wären die Birken typisch, die als sog. Pionierbäume Brachflächen als erste wieder besiedeln, da sie auch mit kargen Standorten zurechtkommen.
Einen weiteren Bezug zu Berlin, wo die Künstlerin inzwischen lebt, gibt es bei den beiden großformatigen Werken aus der Serie Childlike Magic. Auch hier sind die schlanken Baumstämme zu sehen, zwischen denen eine Art Bretterbude steht, die wie ein überdachter Tresen erscheint. Doch es handelt sich nicht um eine idyllisch gelegene Strandbar, sondern eine improvisierte Partylocation auf dem Teufelsberg in Berlin. Hier sind Schichten der Vergangenheit in besonderer Form konzentriert, handelt es sich um den größten Trümmerberg Berlins, bei dem bis 1972 26 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt abgeladen wurde, etwa ein Drittel der in Berlin zerbombten Häuser. Welche Lebensgeschichten diese beinhalten, ist unvorstellbar. Hier wurden nicht nur zerstörte Häuser abgeladen, auch Schicksale und Geschichten von Menschen, an die sich keiner mehr erinnert. Seit 2018 steht der Teufelsberg und seine Gebäude unter Denkmalschutz.
Auffällig ist bei den Werken, dass eine neutrale Lichtsituationen vorherrscht. Es gibt keine Schattenwürfe oder beleuchtet Zonen, die man aus impressionistischen Werken von Max Liebermann kennt, der die Sonnenflecken zwischen den Bäumen auf den Wegen tanzen lässt. Die sachliche Stimmung einer konstruktiven Zeichnung entsteht, gleichzeitig wirken die Szenen wie eingefroren in einer gewissen Reglosigkeit und Stille, als seien sie aus dem Alltag enthoben. Die Nutzung bleibt vage, kein Müll oder andere Spuren von Aktivitäten sind zu sehen.
Dies wird unterstützt dadurch, dass bis auf wenige schemenhaft dargestellte Menschen, die Werke menschenleer sind. Dies erhöht den Eindruck einer verlassenen Örtlichkeit aus vergangener Zeit, ohne dass dies mit Hilfe von Ruinen ausgedrückt wird. Im Gegenteil, auch wenn das Baumaterial nicht explizit dargestellt wird, erscheinen die Gebäude intakt und stabil. Dies gilt für den Unterstand ebenso wie für den kleinen Tempel aus der Serie Silent retreat, der auf einem hohen Felsen thront.
Ganz unterschiedliche Architektur wird in den Werken von Andrea Imwiehe thematisiert, manches wirkt wie eine Villa oder Schloß, anderes ist klar als Industrieanlage zu erkennen.
Manchmal treffen auch Gebäude aus verschiedenen Zeiten aufeinander, etwa bei der Darstellung der Metzingschen Mühle bei Stederdorf, die neben dem Bild mit dem Tempel zu sehen ist. An eine alte Windmühle aus dem 19. Jh., die sich bereits im Verfall befindet, sind neuere Gebäude einer Mühle angebaut, die noch intakt wirken. Daneben steht in unmittelbarer Nähe ein Sendemast neueren Datums. Der Himmel und die Gebäude sind mit der gleichen Farbe unterlegt, so als wären die Strukturen in die Luft gezeichnet. Hier spielt das Lineament sowohl bei den Gebäuden als auch dem Funkmast eine bedeutende Rolle, ragen sie doch weit empor, während die Bäume und Büsche sich im Verhältnis dazu noch klein ausnehmen.
Fast wirkt es so, als würden manche Gebäude auf den Bildern von Andrea Imwiehe in eine Art Dornröschenschlaf verfallen, nicht unbedingt Schlösser oder herrschaftliche Gebäude, sondern ebenso Industrieanlagen und Nutzgebäude, die brach liegen. Dies gilt für den stillgelegten Flugplatz in Eddesse bei Peine, der 1958 von Günter Grassmann, Inhaber einer Werkzeugfabrik als Privatbetrieb eröffnet wurde und seit 2010 geschlossen ist. In verschiedenen Werken sind die Hangars, ein Tank-Service oder der Tower zu erkennen, die sich als schmales Band nebeneinander reihen. Noch scheinen die Gebäude intakt, während die Zuwegungen bereits durch Pflanzen überwachsen werden. Reizvoll sind die unterschiedlichen Formen der Gebäude, die halbrunden Hangars im Kontrast zum Tower, die farblich zusätzlich strukturiert werden, so dass sie Volumen erhalten und nicht alleine als Linienzeichnung zu sehen sind.
Ohne dauerhafte Nutzung verschwinden solche peripher gelegenen Orte nicht nur in der Natur, sondern auch langsam aus dem Gedächtnis, während sich die Zeit in ihnen ein Stück weit konserviert, weil keine Veränderungen mehr vorgenommen werden. Anders ist es bei zentral gelegenen Gebäuden wie dem Flughafen Tempelhof, der auch nachdem er seine Funktion verloren hat, sichtbar bleibt und in eine andere Nutzung übergeht.
Abschließend möchte ich ihre Aufmerksamkeit noch auf die Campingwagen aus der Serie Fading into green und Plant Memory Lane richten. Denn das Triptychon ist ein Werk von diesem Jahr, das auf den Campingplatz in Hämelerwald am Waldsee Bezug nimmt. Die Campingwagen sind eng aneinandergerückt und im Wald regelrecht eingebettet. Es scheint etwas zweifelhaft, ob sie noch genutzt werden oder dort vergessen wurden. Die daneben gezeigten kleineren Formate beschränken sich jeweils auf ein Wohnmobil, wobei unterschiedliche Modelle und Landschaftsumgebungen sichtbar werden.
Hier wird deutlich, dass sich Andrea Imwiehe bei der Gestaltung der Landschaft von der Realität löst und die Einbettung in die Natur nach eigenen Vorstellungen vornimmt. Dabei wird die Natur zunehmend dominanter gegenüber den früheren Arbeiten, wo sie sich auf wenige schlanke Baumstämme reduzierte. Das Einwachsen scheint fortzuschreiten, die Vielfalt verschiedener Pflanzen wie Nadelbäume, Büsche und Gräser nimmt zu.
Eine ambivalente Atmosphäre von Ruhe und Erwartung, von vergangener Betriebsamkeit und dornröschenhaftem Schlaf stellt sich ein. Der Ausgang der Geschichte bleibt anders als im Märchen jedoch offen und bietet die Möglichkeit, die Geschichten selbst weiterzudenken und mit eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen zu verbinden, die von ganz anderen Orten stammen können.
Julienne Franke, Städtische Galerie Lehrte, 2025